Göttinger Erklärung
zum Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft
vom 5. Juli 2004
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Mit der Antwort auf die Frage ,,Wie zugänglich sind Wissen und Information?"
wird entschieden über die Bildungs- und Entwicklungschancen jedes einzelnen
Bürgers in der Informationsgesellschaft wie auch über die Chancen künftiger
Generationen, auf dem vorhandenen Wissen aufbauen zu können. Die im
Urheberrechtsgesetz (UrhG) getroffenen gesetzlichen Regelungen haben nachhaltigen
Einfluss darauf, ob sich in unserer Gesellschaft offene, vernetzte Kommunikations-
und Informationsstrukturen entwickeln können. Sie entscheiden damit auch über die
Qualität unseres Bildungssystems, über die Inventionsfähigkeit der Wissenschaft und
die Innovationskraft der Wirtschaft. Im globalen Wettbewerb sind sie die wesentlichen
Faktoren für eine prosperierende soziale, kulturelle und ökonomische Entwicklung und
damit für die Zukunft unserer Gesellschaft.
Bei der Umsetzung der Richtlinie 2001/29/EG in das Urheberrecht hat der Gesetzgeber
bisher vornehmlich die Belange der Rechteverwerter zur kommerziellen Nutzung der
digitalen Medien und der Netze als zusätzliche Vertriebswege berücksichtigt. Im
Vordergrund standen vor allem die Vermeidung von Risiken für die private
Rechteverwertung und nicht die Nutzung der mit den neuen technischen Medien
verbundenen Chancen für die Allgemeinheit. Dies gilt insbesondere für den Bereich von
Bildung und Wissenschaft. Die Informationsgesellschaft bietet hier neue Potenziale der
Wissensvermittlung und der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Nutzung dieser neuen
Möglichkeiten ist im globalen Kontext ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, setzen uns dafür ein, dass diese Potenziale der digitalen
Medien und Kommunikationssysteme für die Allgemeinheit und hier insbesondere für
die Wissenschaft offen nutzbar bleiben und nicht vorrangig zur privatwirtschaftlichen
Vermarktung von Information restriktiv reguliert werden:
In einer digitalisierten und vernetzten Informationsgesellschaft
muss der Zugang zur weltweiten Information für jedermann zu jeder Zeit von jedem Ort
für Zwecke der Bildung und Wissenschaft sichergestellt werden!
Bildung und Wissenschaft müssen die neuen Formen der Verbreitung und des
Erwerbs von Wissen und Information ohne Behinderungen nutzen können. Die
Schrankenregelungen im UrhG (insb. §§ 52a und 53 UrhG) stellen aber nicht mehr die
notwendigen Privilegien für die Erfüllung der Aufgaben von Bildung und Wissenschaft
positiv, klar verständlich und umsetzbar heraus, sondern sie sind durchsetzt von
erheblichen Einschränkungen, die geeignet sind, weite Kreise von Bildung und
Wissenschaft zu verunsichern oder gar zu kriminalisieren, statt ihnen Rechtssicherheit
für ihre notwendige Arbeit zum Nutzen der Allgemeinheit zu bieten.
Schulen und Hochschulen haben den Einsatz neuer digitaler, vernetzter Medien
für die Wissensvermittlung (eLearning) sowie zur Kommunikation und Kooperation mit
großem Aufwand in einer Vielzahl von Projekten und mit erheblicher Förderung aus
öffentlichen Mitteln durch Bund und Länder entwickelt und erfolgreich erprobt. In
vielen Schulen und Hochschulen ist die Nutzung netzbasierter Lernumgebungen inzwischen ein
wichtiger Teil des regulären Lehrangebots. Die Qualität des Lernens und Lehrens kann
dadurch nachhaltig verbessert werden. Auch für die berufliche Qualifizierung und
Weiterbildung bieten Formen des eLearnings große Nutzungspotenziale. Daher ist es
von herausragender Bedeutung, dass die Freiheit der Lehre und der Zugang zur Information
in der Informationsgesellschaft nicht unangemessen eingeschränkt werden und für Lehrende
und Lernende nachhaltig Rechtssicherheit besteht, eLearning in vollem Umfang und auch in
Zukunft entwickeln und einsetzen zu können.
Wissenschaft und Forschung nutzen den Stand des Wissens und bauen darauf auf. Dies
findet in ständigen kommunikativen Prozessen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in kleinen lokalen Teams
sowie in einem weltweiten Informationsaustausch statt. Diese Informations- und
Kommunikationsprozesse dürfen im Urheberrecht nicht durch restriktive Regelungen
behindert werden. Der freie Zugang zur Information sowie ihre langfristige Sicherung,
die Zugänglichkeit zum Wissen und zum kulturellen Erbe müssen gefördert und bewahrt
werden. Denn die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft ist direkt abhängig vom offenen
Austausch der Erkenntnisse. Für die Wissenschaft und ihre Entwicklung sind dies
Existenzfragen.
Die gesetzlichen Aufgaben der öffentlichen Informationseinrichtungen, der
Bibliotheken, Mediatheken und Archive zur Versorgung der Gesellschaft mit Information
müssen gestärkt, ihre Erfüllung verbessert und erleichtert werden. Dazu gehören auch
und vor allem die nachhaltige Langzeitarchivierung und Zugänglichmachung der
Informationsbestände dieser Einrichtungen in Verbünden unter Ausnutzung der
modernen digitalen Kommunikations- und Informationssysteme. Nur so kann das
kulturelle Erbe der Allgemeinheit nachhaltig gesichert und der weltweite Zugang
garantiert werden.
Freier Zugang zu Information und Wissen muss nicht vergütungsfrei bedeuten. Es gilt,
im Urheberrecht faire und ausgewogene Bedingungen gesetzlich so zu regeln, dass
die Nutzung von geschützten Werken angemessen vergütet, aber gleichzeitig deren
Zugänglichkeit für Zwecke der Bildung und Wissenschaft nicht behindert wird. Technische
Schutzmaßnahmen, die Information aus Gründen der kommerziellen Gewinnmaximierung
verknappen, zu tiefgreifenden Kontrollen bis in die Privatsphäre führen und eine
sichere Langzeitarchivierung unmöglich machen, sind daher der falsche Weg. Sie behindern
die freie Entfaltung von Bildung und Wissenschaft und damit auch die wirtschaftliche
Entwicklung in unserer Gesellschaft. Die angemessene Vergütung der Rechteinhaber durch
Pauschalregelungen und über Verwertungsgesellschaften hat in Deutschland gute Tradition
und hat sich über Jahrzehnte bewährt. Auch für die Nutzungen im Internet sind
entsprechende Systeme der kollektiven Kompensation realisierbar und allen Formen der
Restriktion durch technische Maßnahmen vorzuziehen.
[vollständige Göttinger Erklärung in der Version aus 2004 anzeigen]
Forderungen an die Bundesregierung - Verabschiedet am 11. Oktober 2013
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Diese Forderungen wurden im August 2015 redaktionell überarbeitet.
Wir brauchen endlich ein bildungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht. Das ist Ziel des Aktionsbündnisses und Herausforderung für den
Gesetzgeber.
Die Vollversammlung des Aktionsbündnisses „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“ fordert die Bundesregierung zu folgenden Maßnahmen auf:
- Allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke:
Das Urheberrechtsgesetz muss so novelliert werden, dass die auf Bildung und Wissenschaft bezogenen Schrankenbestimmungen durch eine allgemeine
Bildungs- und Wissenschaftsschranke ersetzt werden. Eine solche allgemeine Regelung trägt den Informationsbedürfnissen und den Kommunikations-
und Arbeitsformen in Bildung und Wissenschaft besser Rechnung als die bisherigen kleinteiligen Schrankenregelungen (insbesondere §§
52a, 52b, 53, 53a und 95b Urheberrechtsgesetz).
Sollte dies kurzfristig nicht gelingen, müssen die bislang geltenden Schrankenbestimmungen und die Regelungen des Urhebervertragsrechts
reformuliert werden:
- Digitale Forschungsgruppen-Bibliotheken ermöglichen:
Der jetzige § 52a des Urheberrechtsgesetzes, der digitale Semesterapparate und Forschungsgruppenbibliotheken regeln soll, muss transparenter
und praxistauglich als umfassendes Schrankenrecht neu formuliert werden.
- Bestandsdigitalisierung erleichtern:
Der jetzige § 52b des Urheberrechtsgesetzes, der den Bibliotheken erlaubt, ihre Bestände zu digitalisieren und zur Nutzung anzubieten, muss transparenter, rechtssicher und frei von den bisherigen Einschränkungen als umfassendes Schrankenrecht reformuliert werden.
- Kopienversand erleichtern:
Der jetzige § 53a des Urheberrechtsgesetzes, der den Kopienversand auf Bestellung durch öffentliche Informationseinrichtungen wie z. B.
Bibliotheken regeln soll, muss transparenter, praktikabler und frei von den bisherigen Einschränkungen an die heutigen technischen Möglichkeiten
angepasst als umfassendes Schrankenrecht reformuliert werden.
- Zweitveröffentlichungsrecht praxistauglich machen:
Der im Zweitveröffentlichungsrecht für wissenschaftliche Werke, die aus öffentlich geförderter Forschung stammen, enthaltene weitgehende Ausschluss
von Autoren an Universitäten, die Beschränkung auf bestimmte Werkarten und die Manuskriptversion müssen ersatzlos gestrichen werden. Die jetzige
Embargofrist von zwölf Monaten muss nach dem Vorbild der Regelungen der Europäischen Kommission für Werke zur naturwissenschaftlich, medizinischen
und technischen Forschung auf sechs Monate verkürzt werden.
- Vergütung überprüfen:
Es ist zu hinterfragen, ob Vergütungen aus Schrankennutzungen für Leistungen in Bildung und Wissenschaft in jedem Fall verhältnismäßig sind. Wo Vergütungen angemessen sind, muss die pauschale Vergütung das Abrechnungsprinzip für öffentliche Informationseinrichtungen und deren Geltendmachung durch Verwertungsgesellschaften sein.
- Vorrang verbindlicher Schranken:
Lizenzvereinbarungen zur Nutzung von veröffentlichten Werken und anderen medialen Objekten und Daten dürfen keinen Vorrang gegenüber rechtlich verbindlichen Schrankenbestimmungen haben. Lizenzen sollten nicht auf schon bestehende Nutzungsregelungen aufgesetzt werden und dürfen neue Nutzungsformen wie z. B. Text und Data Mining (TDM) in Bildung und Wissenschaft nicht behindern.
- Keine technischen Schutzmaßnahmen:
Technische Schutzmaßnahmen und individuelle Abrechnungsformen sollten in Bildung und Wissenschaft nicht zur Anwendung kommen. Sollte die Informationswirtschaft sie dennoch einsetzen, hat der Gesetzgeber dafür zu sorgen, dass die Schranken zugunsten von Bildung und Wissenschaft praktikabel bleiben.
- Reform der EU-Richtlinie:
Die Bundesregierung sollte sich stärker als bisher dafür einsetzen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2001/29/EG an die stark veränderten
technologischen, methodischen und sozialen Rahmenbedingungen für den Umgang mit Wissen und Information angepasst werden. Dafür reichen redaktionelle
Anpassungen nicht aus. Vielmehr ist eine grundlegende Reformulierung des Urheberrechts erforderlich, nicht zuletzt um eine bessere Balance zwischen
Urheber-, Nutzer- und Verwerterinteressen sowie zwischen individuellen und gemeinschaftsbezogenen Rechten an Wissen und Information zu erreichen.
- Wissenschaftsurheberrecht international einfordern:
Die Bundesregierung sollte sich in der EU und der WIPO dafür einsetzen, dass das Urheberrecht für die Wissenschaft grundlegend anders organisiert
wird als für die allgemeinen Publikumsmärkte. Ein Wissenschaftsurheberrecht muss reflektieren, dass Urheber in Bildung und Wissenschaft immer auch
Nutzer und die Nutzer auch Urheber sind und dass der Reputationsgewinn durch Publikationen wichtiger ist als das im Urheberrecht verankerte Prinzip
des Anspruchs auf Vergütung.
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